Was können wir von Thilo S. lernen? Wir leben in einem Zeitalter der normativen Kraft der Öffentlichkeit. Hinter der Wirkmacht von Öffentlichkeit steht das Faktische längst zurück. Schon vor Jahren prägte der amerikanische Satiriker Stephen Colbert das Wort der Truthiness. Truthiness (Wahrheitlichkeit) bezeichnet »Wahrheiten«, die aus dem Bauch heraus gefühlt werden und keiner rationalen, logischen oder faktischen Überprüfung standhalten müssen. Wenn solche »Wahrheiten« nur oft und laut genug wiederholt werden, werden sie in den Köpfen der Menschen zur Realität.
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Berufsdemagogen wie Thilo S. machen sich diese neue Medienwirklichkeit zu nutze. Der viel zitierte Meister der Wahrheitlichkeit, gerne auch »unbequeme Wahrheit« genannt, ist statt Vordenker doch nur Kind des Zeitgeistes, denn mit der gleichen Virtuosität auf der Klaviatur der Aufmerksamkeitsspirale heizt der Selbstdarsteller Glen Beck die amerikanische Empörungskultur an. Dabei geht es diesen modernen Demagogen überhaupt nicht um politische Fragen oder eine inhaltlich geführte Debatte. Die Aufmerksamkeit an sich ist der Wert, auf den es beiden ankommt.
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Das Phänomen der Empörungsspirale bei moralisch aufgeladenen und semantisch entleerten Reizworten wird immer mehr zur Gesetzmäßigkeit, die eine inhaltliche Auseinandersetzung verhindert. Auch jene, die anders als Berufsdemagogen an solchen Debatten interessiert sind, müssen feststellen: Es findet ständig Abgrenzung statt inhaltlicher Auseinandersetzung mit Begriffen statt, die zu Kampfbegriffen geworden sind. Rassismus oder Sexismus sind Beispiele für solche Kampfbegriffe, die in Debatten nicht mehr zur Reflexion der eigenen Position dienen, sondern nur über ihre negative Konnotation wirken. Rassismus ist böse, also will ich nichts damit zu tun haben und distanziere mich nachdrücklich — egal, ob meine Aussagen womöglich tatsächlich rassistisch waren. Die Magie des Bauchgefühls, kein Rassist zu sein, ist stärker als Argumente sein könnten. Truthiness at work.Wie der Vorwurf »Sexismus« dazu führt, dass sich die Inhaltsleere der bloßen Ablehnung des Wortes selbst entlarvt, lässt sich an Nadine Lantzschs Beitrag Das Dampfschiff und den anschließenden Kommentaren eindrucksvoll nachvollziehen. Begriffe wie Demokratie oder Aufklärung sind umgekehrt positiv konnotierte Begriffe, die sich jeder gerne attestiert, ohne dass darüber auch nur ein Jota an Klärung der eigenen argumentativen Position erwächst.
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